Das Denken aus dem Gedanken

Frühere und heutige Sichtweisen zum Wesen des Denkens

 

Frühere Denker wie René Descartes (1596 – 1650) sahen Geist und Materie als getrennte Entitäten. So sprach zum Beispiel René Descartes von res extensa (dem räumlich ausgedehnten materieerfüllten Körper) und res cogitans (dem nicht raumerfüllenden, also raumlosen oder überräumlichen Geist).

In noch früheren Zeiten, etwa in der Ideenlehre Platons zur Zeit der griechischen Antike (Plato, 428 – 348 v. Chr.), ging man davon aus, dass zu jeder Sache in der physischen Welt oder auch zu jedem Begriff des Menschen ein Urbild oder Idealbild in der vom Stoff unabhängig existierenden geistigen Welt existiere. Diese Auffassung führte später im Mittelalter zu dem sogenannten Universalienstreit (siehe auch hierzu den entsprechenden Punkt auf dieser Seite).

In der heutigen Psychologie und den heutigen wissenschaftliche Vorstellungen unterscheidet man verschiedene Formen des Denkens:

 

In der kognitiven Psychologie wird Denken als eine Mischung aus Gedächtnisleistung und logisch abstrakter Symbolverarbeitung angesehen. In der Psychologie des „Problemlösens“ spricht man von zwei Hauptkategorien des Denkens – bewusstes, unbewusstes oder vorbewusstes Denken. Jedem bewussten Denkprozess gehen unbewusste Denkschritte voraus. Viele Erkenntnisse „reifen“ unbewusst, in einer Phase der Entspannung, wenn man sich von dem Problem distanziert hat. Etliche große wissenschaftliche Einsichten kamen den Forschern scheinbar im Schlaf oder „aus heiterem Himmel“.

Weiter unterscheidet man analytisches Denken von analogem Denken: Im „analytischen Denken“ wird ein Sachverhalt in seine Bestandteile zerlegt und deren Beziehungen untereinander nach kausalen oder logischen Gesichtspunkten untersucht, während das „analoge Denken“ assoziativ und spontan erfolgt, also in oft „automatisch“ oder von selbst auftretenden Verknüpfungen oder Vergleichen. Und es gibt auch noch weitere Unterscheidungskriterien, wie etwa in der Betrachtung des Lernverhaltens eines Kindes oder etwa in der Motivations- und Sozialpsychologie.

 

Allen heutigen wissenschaftlichen Formen ist aber gemeinsam, jedenfalls unseres Wissens nach, dass sie das Denken und das Bewusstsein als verursacht durch einen körperlich-biologischen oder biochemischen Prozess im neuronalen System des Menschen ansehen, denn heute gehen nur noch wenige Forscher davon aus, dass das Bewusstsein und somit die Gedanken und Begriffe auch unabhängig von einer biologischen Basis existieren können. Die Kausalkette in der äußeren Welt wird als einigermaßen schlüssig oder fast zwingend beschrieben: Fallen bestimmte Gehirnbereiche aus, fällt der Mensch ins Koma und ist nicht mehr bewusst. Auch im Tiefschlaf, während weite Teile des Gehirns ihre Aktivität reduzieren, findet Bewusstsein nicht statt. Also werden Bewusstsein und Denken ausschließlich von einer biologischen Basis hervorgebracht.

  

Bild: Pixabay, Oberholster Venita, CC0 Public Domain

Die Einteilung des Großhirns in die sogenannten Rindenfelder (ältere Darstellung).

Ihre einzelnen Aufgaben sind nach der gängigen Lehre die Verarbeitung der Sinnesreize aber auch das Gedächtnis und höhere Denkvorgänge. Ihr Zusammenspiel in neuronalen Prozessen ergibt im Gesamten nach den heute üblichen Vorstellungen das Bewusstsein des Menschen, also das, was er als Mensch letztlich ist.

  

Kritische Anmerkungen zu den heute hauptsächlich gebildeten Vorstellungen über das Denken

 

Also werden Bewusstsein und Denken ausschließlich von einer biologischen Basis hervorgebracht? Ist das wirklich so? Für unser sogenanntes Tagesbewusstsein scheint es so zu sein. Gibt es also kein Bewusstsein außerhalb des Körpers, also auch nicht so etwas wie ein Bewusstsein nach dem physischen Tod? Oder gar wie ein sogenanntes „kosmisches Bewusstsein“ oder wie einen Gedanken als freies, unabhängig von Stoff und Körper existierendes Wesen?

Bleiben wir speziell bei den Gedanken: Bringt also das Gehirn die Gedanken (und damit auch das Bewusstsein) sozusagen als „Ausdünstung“ oder „Aushauchung“ seiner neuronalen und damit bioelektrischen Aktivitäten hervor? Kann man also das, was der Mensch „Geist“ oder „Gedanke“ nennt rein auf stoffliche Gegebenheiten zurückführen, ist also zuerst der Stoff und dann der Geist?

    

Nun zunächst einmal zu der heutigen Vorstellung, dass die Gedanken rein aus dem Stoff der Gehirnsubstanz gebildet werden und es daher kein Bewusstsein unabhängig vom physischen Körper gibt:

Ich wage einmal die ketzerische Aussage, dass diese Vorstellung nicht das logisch zwingende Ergebnis einer nachdenkenden Forschung ist, sondern vielmehr aus einer in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren allgemein gebildeten Weltanschauung stammt und für die Interpretation der Forschungsergebnisse herangezogen wird. Das heißt, man interpretiert die Beobachtungen nach einer schon vorher bestehenden Ansicht.

  

Ein Beispiel hierzu:

 

In den neueren Forschungen der Neurologie wurde bewiesen, dass nervliche Aktivitäten immer sehr kurze Zeit auftreten, bevor die entsprechenden Vorstellungen oder Gedanken im gewöhnlichen Tagesbewusstsein der Versuchsperson erscheinen. Dies wurde in verschiedenen Publikationen als Beweis dafür interpretiert, dass elektrochemische Nervenaktivitäten die Ursache oder Erzeuger für Gedanken oder Vorstellungen sind. Weil also die Nervenreaktionen zuerst da sind und dann erst entsprechende Inhalte im Bewusstsein auftreten, müssen die Ersteren die Entstehungsursache und der Entstehungsort für die Zweiteren sein.

 

Jetzt übertragen wir diese Art der Argumentation auf einen scheinbar ganz anderen Sachverhalt: Jemand steht vor einem Spiegel und sieht im Spiegel das Bild einer Lampe, die sich hinter ihm befindet.

    

Person, Lampe und Spiegel schematisch

  

Nehmen wir an, man weiß nicht, dass eine Lampe hinter einem steht und was der Spiegel insgesamt eigentlich tut, man sieht nur das Ergebnis im Spiegelbild (siehe hierzu zum Beispiel das platonische Höhlengleichnis, man kann also nur in den Spiegel blicken und sonst weiter nichts sehen oder tun), so gibt es mehrere Möglichkeiten, die Erscheinung zu interpretieren:

 

Zum Beispiel kann man annehmen, wie das ja auch gewöhnlich geschieht, hinter mir steht eine Lichtquelle und der Spiegel reflektiert deren Licht, so dass ich das Spiegelbild der Lampe und auch ein Spiegelbild von mir selbst sehe. Man geht dann von der Hypothese aus, dass ein Spiegel nur Licht reflektieren kann.

 

Oder aber man könnte meinen, der Spiegel selbst bringt die Lampe, das Bild von mir und alles weitere hervor! Und es kann auch bei dem Spiegelungsvorgang ebenso sein wie bei dem oben geschilderten neuronalen Geschehen: Es entsteht die Lichterscheinung auch am Spiegel immer eine kurze, wenn auch sehr kurze Zeit vorher,  bevor sie dass Auge des Beobachters wahrnimmt.

 

Natürlich weiß der heutige gebildete Bürger, dass der Spiegel nur das Licht reflektiert und nicht hervorbringt und das es natürlich zuerst am Spiegel umgelenkt werden muss, bevor der Beobachter das Bild sehen kann. Die sehr kurze Zeit zwischen Reflexion und Wahrnehmung ist in Wirklichkeit unter anderem eine Folge des Lichtweges und der endlichen Geschwindigkeit des Lichtes.

 

Wie verhält es sich aber nun mit dem Gehirn und den Gedanken? Denn hätte man also sonst keine Kenntnisse über den Spiegelungsvorgang, und würde aus irgendwelchen Gründen als Hypothese annehmen, dass ein Spiegel Lichterscheinungen und Bilder aus sich selbst hervorbringen kann, so würde man auch diese Erscheinung genauso wie in der Neurologie in der zweiten Weise erklären.

 

Das platonische Höhlengleichnis:

Das Gleichnis spielt eigentlich auf den Menschen an, der sich bei seiner Suche nach Erklärungen und Wahrheiten nur auf den äußeren Sinnesschein verlässt und ihn möglicherweise dann noch nach einer gerade vorhandenen Weltanschauung interpretiert.

In dem Höhlengleichnis wird eine unterirdische, höhlenartige Behausung beschrieben. In der Höhle leben Menschen, die dort ihr ganzes Leben als Gefangene verbracht haben. Sie können nur nach vorn auf die Höhlenwand blicken und ihre Köpfe nicht drehen. Daher erblicken sie den Ausgang, der sich hinter ihren Rücken befindet, nie und wissen nichts von seiner Existenz. Auch sich selbst und die anderen Gefangenen können sie nicht sehen; das Einzige, was sie je zu Gesicht bekommen, ist die Wand, der sie zugedreht sind. Erhellt wird die Wand von einem Feuer, das hinter ihnen brennt. Die Gefangenen sehen nur dieses Licht, das die Wand beleuchtet, nicht aber dessen Quelle. Da die hinter einer Trennmauer bewegten Gegenstände auf die Höhlenwand, der die Gefangenen zugewendet sind, Schatten werfen, können die Höhlenbewohner die bewegten Formen schattenhaft wahrnehmen, ohne die Formen selbst jemals direkt zu sehen. Die Gefangenen glauben dann, alles, was sich schattenhaft auf der Höhlenwand zeigt, könnte durch sich selbst oder durch irgendwelche Hypothesen erklärt werden, während die wahre Erklärung ja nur erfolgen kann, wenn man den originalen Ablauf hinter der Trennwand und hinter den Gefangenen sieht.

 

Man sieht an diesem Beispiel, dass man ja im Gegensatz zum Spiegel bei der Lichtreflexion in Bezug auf das Gehirn und die Nerven tatsächlich zunächst nicht weiß, was sie hinsichtlich der Gedanken- und Bewusstseinsbildung eigentlich bewirken, stellt dann die verschiedensten Untersuchungen an und interpretiert die Ergebnisse zuletzt gemäß der vorherrschenden,  auf die Materie bezogenen Weltanschauung, dass Gehirn und Nerven selbst Gedanken und Bewusstsein hervorbringen, dass der Geist also eine Aushauchung der Materie ist.

 

Eine andere Möglichkeit, die Forschungsergebnisse zur Wahrnehmung der Gedanken zu interpretieren

 

Eine andere Möglichkeit der Interpretation der Forschungsergebnisse zum Denkvorgang wäre aber auch die Folgende: Der Gedanke als geistige oder zunächst freie und unabhängig angenommene Entität wird im Denken vom Menschen wie herbeigezogen und muss zunächst im Nervensystem des denkenden Menschen reflektiert werden, bevor er in dessen Tagesbewusstsein in Erscheinung tritt. Daher vergeht eine gewisse Zeitspanne zwischen Nervenaktivität (Reflexion, siehe Spiegel) und dem Erscheinen des Gedankens im zunächst einmal körpergebundenen Bewusstsein (Wahrnehmung).

 

Das Nervensystem des Menschen würde in dieser Vorstellung einer Art Spiegelapparat gleichen, der den zunächst freien Gedanken in das Tagesbewusstsein des Menschen bringt und die in der Psychologie beschriebenen unterschiedlichen Formen des Denkens sind eine Folge weiterer Bewusstseins- oder Seelenkräfte, die auf den eintretenden Gedanken dann einwirken. In der gewöhnlichen Verfassung des Tagesbewusstseins benötigt der Mensch seine nervliche Organisation, weil über diese die an sich geistigen Prozesse des Denkens in sein Bewusstsein gespiegelt werden. Nervenkrankheiten, Schlaf, Bewusstlosigkeit oder physischer Tod bedeuten zunächst nur, dass dem geistigen Menschen dieser „Spiegelapparat“ nicht mehr vollständig oder überhaupt nicht mehr zur Verfügung steht. Sie bedeuten aber nicht, dass Gedanken als freie, geistige Entitäten nicht unabhängig von einer stofflichen Grundlage existieren könnten.

 

Das Denken aus dem Gedanken

 

Was ist nun gemeint mit dem „Denken aus dem Gedanken“? Auf dem hier vorgestellten Schulungsweg, begründet von Heinz Grill, gehen wir davon aus, dass der Gedanke tatsächlich zunächst ein freies, rein geistiges, von aller Stofflichkeit unabhängiges Wesen ist, das gerade in seiner Ursprünglichkeit eine ihm eigene Wirkungskraft entfaltet. Gewöhnlich zieht der Mensch unbewusst die Gedanken wie in seine Leiblichkeit hinein und verbindet sie mit anderen Kräften, etwa mit Emotionen, Assoziationen, dem Willen oder mit früheren Erfahrungen und Traumen oder eben mit dem, was im Kollektiv des Zeitgeistes schon vorgegeben ist.

 

Die entstehenden Verknüpfungen folgen dann nicht mehr der freien Kraft des Gedankens und die sich heranbildende Vorstellung gibt folglich mehr oder weniger nur das wieder, was sich früher schon geformt hat und nun wieder mental lebendig wird, aber nicht das eigentliche Wesen der aktuell betrachteten Sache.

 

Der auf dieser Seite beschriebene Übungsweg, begründet von Heinz Grill, möchte daher den Gedanken, die Bezüge verschiedener Gedanken untereinander und die daraus entstehende Vorstellung, wie schon bei dem Punkt „Übungsweg“ beschrieben, möglichst frei als gegenüberstehend in der Außenbeobachtung halten, damit das entstehende Gesamtbild zu einer Sache oder einem Thema nicht vorschnell mit schon von früher aufgespeicherten Inhalten vermischt und überlagert wird und somit die ursprüngliche Wirkung des Gedankens oder der Vorstellung von anderen Tendenzen absorbiert wird.

 

In dem „freien Denken“ bewegt sich auch das Bewusstsein freier, das heißt, freier von früher gebildeten und im Leibesgefüge schon abgespeicherten Formen und über die ätherisierende, das heißt, lebendige Kräfte hervorrufende Wirkung des ungebunden bleibenden Gedankens oder Gedankengefüges, das in sinnvoller Weise geistig mit einem Übungsinhalt verbunden ist, kann der Inhalt selbst sich in seiner eigentlichen Bedeutung auch „rückstrahlend“ aussprechen (siehe hierzu auch den Punkt „Übungsweg, rückstrahlender Äther“).

 

Beitrag und Zeichnungen von Günther Pauli