Das Menschenbild aus dem Werden des Ich

Das Menschenbild als Grundlage des "In der Welt Stehens"

Was versteht man eigentlich unter einem Menschenbild? Diese Frage können wir in ersten Zügen vielleicht so beantworten: Das Menschenbild ist die Summe aller Anschauungen, die sich der Einzelmensch, eine Gemeinschaft oder eine ganze Gesellschaft über Wesen und Aufgaben des Menschen zu verschiedenen Zeiten gebildet hat (zu verschiedenen Menschenbildern siehe zum Beispiel auch http://yoga-und-synthese.de/das-menschenbild/). Dabei ist es für die  Wirkung in der Welt und das eigene Lebensgefühl  in der heutigen Zeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung, ob man sich als Einzelner aktiv mit dem Menschen und seinem sogenannten "Sinn" auseinandersetzt oder ob man mehr passiv vorgegebene Anschauungen oft unterbewusst aus einem Kollektiv der Zeit heraus aufnimmt. Zum Beispiel ist aktuell zumindest im europäisch-westlichen Raum zu beobachten, dass der Einzelne sich kaum mehr Gedanken über sein "Sosein und Hiersein" in der Welt macht. Vielmehr folgt er von Jugend an einfach den äußeren Bedingungen meist wirtschaftlicher oder anderer Art und diese geben so erst einmal den Rahmen seines Lebens vor. Das heißt aber nicht, dass in diesem Raum heute kein Gesamtbild über den Menschen mehr existiert, denn das nach wie vor auch heute insgesamt bestehende Menschenbild und seine Einflüsse vermitteln sich nur indirekt gerade über die sogenannten äußeren Bedingungen und "Notwendigkeiten" an den einzelnen Menschen. Die  heute gegebenen Anschauungen zu den Menschen sind mehr oder weniger von bestimmten Wissensformen, aber auch von Gruppeninteressen geprägt und kollektiv in der Gesellschaft ausgebreitet, ohne dass sich der Einzelne oft dessen bewusst ist und sie sind trotzdem oder gerade deshalb umso mehr im Menschen und in der Welt wirksam.

 

Auf dem Schulungsweg, der den Hintergrund zu den hier vorgestellten Seminaren und Studientagen bildet, bemühen wir uns um einen möglichst freien Blick zum Wesen des Menschen und seinem "In der Welt stehen" und gehen in den Betrachtungen und Untersuchungen aber davon aus, dass dieses Wesen des Menschen seine Grundlagen vor allen aus der geistig-seelischen Welt bezieht und sich in der Folge in der physischen Welt umsetzt.  Daher ist das zentrale Element der hier angedeuteten Schulung das Erforschen der seelischen und geistigen Gesetze  und deren Gestaltung in die Welt hinein. Wir sehen dieses Arbeiten aber weniger oder kaum als Aufgabe einer Gruppe, eines Vereins oder einer konfessionellen Orientierung, sondern vielmehr als durchaus interessante, ja befeuernde Aktivität des einzelnen Menschen. Ein Zusammenkommen in einem Seminar hat also die Bedeutung, den Einzelnen in seiner individuellen Arbeit zu fördern und möchte aber nicht, anders als das vielleicht heute sonst noch üblich ist, irgendwelche Formen einer Gruppenzusammengehörigkeit fördern.

 

Die Gründung des Ich-Selbst im Herzzentrum

„Zunächst ist der Mensch eine ungehobelte Einheit von Körper, Seele und Geist. Mit der Zeit wird er eine geordnete Einheit von Geistesleben, seelischer Verfasstheit und körperlicher Konditionierung.

Diese Ordnung, die eintreten muss, ist aber nicht eine Entwicklungslinie, die als Wiederherstellung eines alten Zustandes, eines bisher schon erschaffenen Zustandes bezeichnet werden könnte, sondern es ist diese neu entstehende Einheit  von einem Geistesleben, einem Seelenleben und einem körperlichen Dasein immer ein schöpferischer Akt, der über allen bisherigen Bedingungen steht. Nicht das Alte wird noch einmal rekonstruiert und neu hergestellt, sondern der ganze Mensch inkarniert immerfort im Ätherwerden.

Die Ätherkräfte sind sehr feinsinnig und licht im Menschen organisiert, sie sind nach intelligenten Zügen ausgebildet, dass sie das Alte nicht noch einmal regenerieren, sondern dass sie den Menschen nach und nach mit jenen Kräften beleben, die aus der übergeordneten  anderen, neuen Wirklichkeit kommen."

 

"So bleibt der Mensch im Laufe seines Lebens nicht stehen und vervielfältigt oder verwirklicht sich innerhalb seiner bisherigen Grundbedingungen, sondern er nimmt ständig neue Möglichkeiten und Dimensionen des Wissens oder des Gewahrwerdens auf, ordnet sie wiederum innerhalb seines introvertierten Seelenlebens und kehrt mit diesen in seine Mitte des Herzens ein. Im Herzen erwacht die Individualität des von oben herabgestiegenen Geisteslebens."

 

(Aus der Broschüre von Heinz Grill: „Die Gründung des Ich- Selbst im Herzzentrum“, 2006)

 

Das Menschenbild des heutigen Zeitgeistes und das Menschenbild des „Neuen Yogawillens“ – ein Vergleich

Das Menschenbild des heutigen Zeitgeistes

Blickt man auf den heutigen Menschen, so zeigt sich sowohl im Seelischen, als auch im Physiologischen eine Dreigliederung: Ein Denken und Wahrnehmen, dass sich des Nerven-Sinnespols mit Schwerpunkt im Kopfbereich bedient, ein Willenszentrum im unteren Rumpf, dessen vegetativen Nervengeflechten man auch das Unbewusste zuordnet und dazwischen als mittlere Ebene die Seelenkraft des Empfindens oder Fühlens, die mit dem rhythmischen Systemen des Kreislaufs und der Atmung in Verbindung steht. Diese Mitte fördert eine ausgleichende oder vermittelnde Funktion zwischen dem oberen Pol des Nerven-Sinnes-Systems oder des Gedankenlebens und dem unteren Pol, der vom Stoffwechsel aufsteigenden Kräfte. Mit dieser ordnenden Wirkung eines Ausgleichs wären, wenn diese wirklich zum Tragen kommen kann, das Gedankenleben und die Handlungen in einem geordneten und logischen sowie aufbauenden Zusammenhang.

Alles, was der bisherige Mensch geworden ist und was auf ihn aus der Vergangenheit oder aus einem schon Gewordenen einwirkt, ist schematisch auf dem folgenden Bild dargestellt (auch jeder physische Reiz der Sinne ist schon ein „Gewordenes“, da er schon in die Manifestation des Physischen eingetreten ist).

 

Von dem linksstehenden Schema ausgehend, kann man sich nun die Frage stellen, von was wird dieser bisherige Mensch geführt, „wer“ führt diesen Menschen und seine Entwicklung? So wird man doch tendenziell, vielleicht bei dem einen mehr und bei einem anderen Menschen schon weniger die Feststellung machen, dass es zunächst entweder äußere, oft mittlerweile anonyme Autoritäten und Bedingungen sind, die den Menschen führen, ihm eine „äußere Struktur“ vorgeben, innerhalb derer er sich bewegen darf (gerade auch das, was als so Selbstverständliches gilt, wie etwa das Gleichsetzen von „Ansehen“ und „Geldverdienen“, zählen wir hier dazu). Gleichzeitig gibt es aber auch innere Bedingungen, die den Menschen zunächst determinieren, etwa aus früheren Zeiten übernommene und internalisierte Autoritäten oder einmal erfahrene Traumen. Diese graben sich im Wesentlichen in die Lebenskräfte und in den Stoffwechselpol ein und beeinflussen von dort aufsteigend das Bewusstsein in seiner Gedanken- und Zielbildung. Weniger ist es also zunächst die eigene Mitte, die ausgleichend und führend das Leben gestaltet.  Die mit dem Herzzentrum in Verbindung stehende Mitte greift nur sehr beschränkt in einer ordnenden Weise in das Spiel der Kräfte zwischen Innen und Außen, zwischen unterem und oberem Pol ein.  Zeichnung: Günther Pauli

 

Der Vorgang, wie eine außenstehende Autorität sich nun nach und nach mit dem Innenleben eines Menschen verbindet und in der Folge zu einer von dort wirksamen internalisierten Autorität wird, kann an einem Beispiel aus der sogenannten „Esoterikszene“ oder auch aus Kirchenkreisen erläutert werden:

Hier werden oft Aussagen an den Menschen herangetragen, wie „Des Christus Liebe erlöst dich“ oder „Du bist eins mit der universalen Liebe“ und so weiter. Man kann sich nun die Frage stellen, was passiert, wenn ein Mensch solche Aussagen einfach übernimmt, in sich hinein nimmt? Wenn er also gar keine Vorstellung hat über das, was mit „Christus“, „Eins sein“, einer „universalen Liebe“ oder einer „Erlösung“ gemeint sein könnte, die zentralen Worte also für ihn nebulös bleiben und er trotzdem diese Sätze für wahr und bedeutungsvoll hält? 

 

Gehen wir einmal davon aus, dass der zuhörende Mensch bei dieser Art Aufnahme ohne weitere Erkenntnisbemühung stehen bleibt, so wird es höchstwahrscheinlich so sein, dass sich die Aussagen mit seinen Stoffwechselkräften aus dem unteren Pol, oder mit seinem Willenskräften verbinden werden. Das heißt, es entsteht nicht wirklich etwas Neues, vielleicht eine neue Erkenntnis oder ein neuer Einblick in tiefere Zusammenhänge, sondern etwas Altes, schon Angelegtes verbindet sich oft machtvoll und emotional mit einem von außen kommenden Gebilde ohne einen entwickelten eigentlichen Inhalt. Das Aussagengebilde wird zu einer internalisierten Autorität.

  

Ein andere, zu der eher emotionalen Form wie entgegengesetzt stehende Erscheinung wäre der Intellektualismus. Dieser besteht aus Begriffen oder Aussagen die sich innerhalb eines Denkgebildes logisch voneinander ableiten lassen, wenn man bestimmte, als nicht weiter beweisbar oder ableitbar geltende Grundaussagen, sogenannte Axiome voraussetzt. Solche Gebilde sind also in sich selbst schlüssig, werden aber zum Problem, wenn die vorausgesetzten Grundaussagen mit der Gesamtheit der Welt oder des Lebens nicht übereinstimmen, in ihrer als absolut genommenen Aussagekraft also falsch sind.

Ein solches Denkgebilde ist zum Beispiel der in der Philosophie bekannte Empirismus: Er geht von der Grundaussage aus, dass aller Erkenntnis zuerst und ausschließlich die Sinneserfahrung vorausgeht. Hier wird übersehen, dass die Bildung einer Erkenntnis aus einer Sinneswahrnehmung ohne schon gegebene Gedanken, Vorstellungen oder Begriffe überhaupt nicht möglich ist. Eine reine Sinneswahrnehmung ohne Gedankenführung wäre ein „Glotzen“, das der physiologischen Reaktion einer Pflanze auf einen äußeren Reiz gleich käme.

  

Ein weiteres Beispiel ist die Grundaussage des heutigen Wirtschaftens, dass „eine Wirtschaft ohne ein stetiges Wachstum nicht funktionieren kann“. Auch diese Aussage ist als absolute Aussage nicht richtig, es lassen sich durchaus auch sinnvolle Wirtschaftsformen ohne stetige Zunahme des Waren- und Geldumsatzes denken und verwirklichen.

 

Trotzdem kann ein derartiges „Axiom“ einen Grundbaustein zu einem umfassenden Denkgebilde darstellen, wie das etwa in der „allgemeinen Prinzipien- und Erkenntnislehre“ des Marxismus gegeben ist, oder wie es im zweiten Beispiel die Grundlage des heutigen komplexen und weltweiten Wirtschaftssystems bildet. Auch bei dem Intellektualismus kann es also geschehen, wenn ein Mensch ein solches Denkgebilde annimmt und ohne es weiter zu reflektieren für allgemeingültig erklärt, dass es sich „von selbst“ mit seinen Willenskräften auflädt und zu einem „Machtgebilde“ wird, wie es viele gesellschaftspolitische Formen zeigen.

 

Sowohl in der Erscheinung einer nebulösen Esoterik als auch des oft harten Intellektualismus wird dann schließlich von den beteiligten Menschen wieder eine übergreifende Wirkung nach außen entstehen, welche andere Menschen bedrängt und ihnen Raum nimmt, welche aber nicht wirklich Neues in die Welt bringt sondern nur die schon veranlagten Willenskräfte der Beteiligten nach außen projiziert. Das gesamte Wirkungsfeld, das dann innerhalb einer Gemeinschaft oder Gesellschaft entsteht, kann durchaus als ideologisch oder fundamentalistisch bezeichnet werden.

  

Mehr von der seelischen oder sogar physiologischen Seite aus gesehen, bewirken die heute doch weit verbreiteten Formen einer Absorption von aus dem Zeitgeist entspringenden Aussagen durch das bisher gegebene Innenleben, dass der Mensch mehr in seiner Leiblichkeit eingeschlossen oder wie verhüllt bleibt. Das Bewusstsein oder der Astralleib tritt nur scheinbar mit der Außenwelt in Kontakt, in Wirklichkeit bleiben die Bewusstseinskräfte mehr an das gebunden, was der Mensch bisher schon geworden ist und was in seiner Leiblichkeit aufgespeichert ist. Das zu stark an den Leib gebundene Bewusstsein behindert die Bewegung der Lebens- oder Ätherkräfte, ein „Ätherwerden“, das heißt eine Erneuerung der Lebenskräfte durch „neue Dimensionen des Gewahrwerdens“ oder durch die Hinwendung zu bisher noch wirklich unbekannten Inhalten, deren tiefgreifende Ergründung und schließlich deren erfolgende Umsetzung in der eigenen Individualität, findet kaum statt. Die „Mitte des Herzens“ bleibt noch eher passiv.

    

Das Menschenbild des neuen Yogawillens

 

Nehmen wir hier den ganzen letzten Absatz der Darstellung von Heinz Grill über das Gründen des Ich-Selbst im Herzzentrum hinzu:

 

„So bleibt der Mensch im Laufe seines Lebens nicht stehen und vervielfältigt oder verwirklicht sich innerhalb seiner bisherigen Grundbedingungen, sondern er nimmt ständig neue Möglichkeiten und Dimensionen des Wissens oder des Gewahrwerdens auf, ordnet sie wiederum innerhalb seines introvertierten Seelenlebens und kehrt mit diesen in seine Mitte des Herzens ein. Im Herzen erwacht die Individualität des von oben herabgestiegenen Geisteslebens.“

 

Wie kann man sich diese Aussage in ersten Anschauungen näherführen und was für ein Bild des Menschen beschreibt der oben dargestellte Aufbau eines immer im Werden gedachten Menschen? 

  

Mit dem linksstehenden Bild soll nun eine Vorstellung über den Prozess des werdenden Menschen, der auch oft als „Weg von oben nach unten“ beschrieben wird, erbaut werden. Am Anfang stehen ein Gedanke, eine Idee oder ein Ideal, welche aus der Ebene des Geisteslebens kommen und dort eine Wahrheit besitzen und denen sich ein Mensch aus möglichst freien Stücken oder freier Entscheidung zuwendet. Er wendet sich diesen zu, kommt zu einer ersten Vorstellung, es treten weitere Gedanken und Vorstellungen hinzu, eine sich langsam heranbildende Erkenntnis wird in ersten Schritten im Wechselspiel mit der Außenwelt reflektiert. Alle Gedanken und Vorstellungen werden aber nicht vorschnell in das eigene Innenleben hereingenommen, sie bleiben zunächst ganz außerhalb in der Anschauung und Erprobung mit der Außenwelt. 

Zeichnung: Günther Pauli

 

Mit diesem geführt nach außen gewendeten Bewusstseinskräften dehnt sich der Astralleib aus, die Lebens- oder Ätherkräfte können ihr Bewegungsspiel in der Leiblichkeit freier entfalten, neue Ätherkräfte organisieren sich in und um den Menschen und erzeugen eine Anziehungskraft für die Entwicklung weiterer Reflexionen. Der Mensch beginnt in diesen Bemühungen, seine Entwicklung selber zu führen.

Nach und nach entstehen Empfindungen, die das ausgewählte Thema weiter vertiefen, die tiefere Wahrheit des Gedankens oder der Idee weiter eröffnen und deren Lebendigkeit in die Geburt heben.

Es bildet sich schließlich in der Herzregion eine Art ätherisches Zentrum, welches dann aber nicht nur eine unbestimmte Lebenskraft darstellt, sondern in seiner Formung das enthält, was als Vorstellungen und Empfindungen im vorausgegangenen Prozess gebildet wurde. Die Gesamtheit der Bemühungen ist zu einem Inhalt geworden, der auch wieder auf die Umgebung Wirkungen entfaltet. Dieser Inhalt wurde zu einem Teil des Ichs oder der Individualität des Menschen.

 

Ein Beispiel zur näheren Erläuterung

 

Ein Beispiel mag die bisherigen Darstellungen noch einmal näher bringen:

Ein Zimmererlehrling bemüht sich während seiner Lehre wirklich aufrichtig und strebsam, eine Fachkunde zu seinem kommenden Beruf aufzubauen. Er hat diese Berufsrichtung nicht nur einfach so gewählt, sondern er tritt interessiert an die Aufgaben heran und setzt sich mit den mit der Arbeit verbundenen Umständen auseinander. Auch nach der Gesellenprüfung beschäftigt er sich vertieft mit den verschiedenen Techniken der Holzbearbeitung und den unterschiedlichen Problemen, die sich bei den Bauvorhaben, zum Beispiel in Dachstuhlbau stellen.

Schließlich wird er Meister und in der gesamten Auseinandersetzung der vergangenen Jahre hat er einen so ausgereiften Blick für sein Fach entwickelt, dass er zum Beispiel schon allein durch sein prüfendes Hinschauen weiß, wie er einen Balken anschneiden muss, der in unterschiedlichen Winkeln auf einen Zweiten stößt, ohne vorher Messungen und Rechnungen durchführen zu müssen.

 

 Zimmerermeister mit einem Auszubildenden, Bild: Pixabay, skeeze, CC0 Public Domain

 

Dieser Mensch hat die Fachkunde in der Auseinandersetzung mit der irdischen Materie, so vertieft, dass sie zu seinem Inhalt, zu einem Teil seiner Individualität wurde. Bildet der Meister nun selber Lehrlinge aus, so wird er sie in ihren Bemühungen um den zu erlernenden Beruf gut unterstützen können, aber nicht nur durch die getätigten Worte und Verrichtungen, sondern auch unmittelbar durch die Anwesenheit seiner Person. Diese Anwesenheit und Führung wird für die Lernenden  eine umfassende und förderliche Ordnung erbauen.

Die wirklich zum Inhalt gewordene oder individualisierte Fähigkeit eines Menschen stirbt nicht mit dem physischen Leib, sie geht als Qualität in die nachtodliche Welt ein, erbaut dort auch weiter eine Substanz für die Hinterbliebenen und erfährt eine weitere Verwandlung und Steigerung.

 

Fassen wir diese Beschreibung über das Gründen des Ich-Selbst im Menschen noch einmal bildhaft zusammen: Aus einer zunächst weit entfernt liegenden Idee oder einem sehr umfassenden Ideal legt sich mit der Zeit der Auseinandersetzung ein Zentrum oder ein Inhalt im einzelnen Menschen selbst an und erwacht als eine das Leben ordnende Kraft im Herzen des Menschen. Aus einem weiten Umkreis bildet sich eine Mitte, ein Unendliches berührt sich mit einem Punkt und gebiert für das Leben direkt umsetzbare Fähigkeiten. Das Ich des einzelnen Menschen ist aber nicht nur das Zentrum oder der Punkt seines irdischen Daseins, auch nicht nur der weite Umkreis, es lebt vor allem in dem Prozess des Herabsteigens aus dem weitesten Umkreis zu einer irdischen Inkarnation im Zentrum einer Individualität und dieser Prozess ist eigentlich niemals abgeschlossen.

 

Eine kulturphilosophische Betrachtung zu dem Werden des Ich an einem Beispiel der Entwicklung in der Mathematik

 

Der Prozess des Ichs oder des Ichwerdens bewegt sich also zwischen einem zunächst fernen oder weit gedachten Ideal und seiner konkreten Umsetzung im Sozialem des Lebens. Oder abstrakter ausgedrückt, das Ich lebt in der Bewegung zwischen dem weitesten Umkreis und einer Zentrierung im äußeren Dasein. Zeichnung: Günther Pauli

 

Man muss aber davon ausgehen, dass dieses Zentrum im Menschen zunächst überhaupt nicht oder nur keimhaft angelegt ist, wie das die vorangestellte Aussage von Heinz Grill auch andeutet. Erst mit dem Hinausgehen in den Umkreis, das heißt, mit der Hinwendung zu einem zunächst fremden Gedanken oder einem Ideal, das vielleicht in seiner gesamten Tragweite noch nicht überschaut wird, entsteht nach und nach aus dem Punkthaften oder dem „Nullpunkt“ ein Inhalt, den ein Mensch über seine Persönlichkeit darstellen und auch in die Welt vermitteln kann. Oder wieder abstrakter ausgedrückt: Durch das Zusammenwirken eines zunächst Punkthaften, einer Art „Null“ und einem weiten Umkreis entsteht etwas Konkretes in der Zeit. Es ist dies der Inhalt, den ein Mensch dann in das Leben geben kann. Das Ich des Menschen ist also niemals statisch. Es ist immer im Werden begriffen, es bewegt sich immer in dem Prozess zwischen einem zunächst fernen Außenstehenden hin zu einer konkreten, zeitlichen Wirkung in der Welt. Diese Bewegung kommt niemals zu einem Ende, da eine Umsetzung ins Leben immer wieder noch gesteigert und verbessert werden kann und da auch „unendlich viele“ weitere Gedanken und Ideale darauf warten, in eine Umsetzung zu finden.    

Das Zusammenwirken eines „Unendlichen“, das so etwas wie „Alles“ darstellt und einer Art „Nichts“ (0), welches dann zu einem endlichen, konkreten Inhalt führt, findet man in abstrakter Form auch in der Infinitesimalrechnung der Mathematik (das Wort „infinitesimal“ ist eine Zusammensetzung aus „unendlich“ und „klein“): 

  

Die Berechnung der Fläche einer Ellipse:

Sind die Rechenmethoden der "Infinitesimalrechnung" in jeder Kultur oder jedem Zeitalter denkbar oder ist die Möglichkeit, solche Formen des Rechnens zu denken nicht vielmehr von der Bewusstseins- oder Ich-Entwicklung des Menschen abhängig?

Zeichnung: Günther Pauli

 

Die sogenannte Ableitung dy/dx ist ein Produkt aus „dy gegen Null“ und „1/dx gegen Unendlich“ also einer „Null“ und einem „Unendlichen“. Aber in dem Zusammenwirken der beiden ungreifbaren Größen im Produkt entsteht etwas Konkretes, Endliches, nämlich ein Verhältnis.

So ergibt sich zum Beispiel für y = "x im Quadrat" und x = 1 das konkrete Verhältnis dy/dx = 2.

 

Ein weiteres Beispiel ist das „Integral zwischen a und b über das Produkt y mal dx“. Die Größe „y mal dx gegen Null“ stellt hier eine Art „Null“ oder ein „Nichts“ dar. Durch die Summierung über überabzählbar unendlich viele dieser „Nichtse“ werden diese wieder mit dem „Unendlichen“ verbunden und es entsteht etwas Konkretes, nämlich der Inhalt einer endlichen Fläche im Intervall zwischen der Zahl a und der Zahl b (das Zeichen „Integral“ steht für „Summe über unendlich viele Summanden“ oder „Grenzwert einer Summe“).

 

So ergibt zum Beispiel das „Integral zwischen 1 und 4 über das Produkt y mal dx" für y = "x im Quadrat" den konkreten Inhalt 21.

    

Die Infinitesimalrechnung ist also eine mathematisierte Form des Zusammenspiels eines weitesten Umkreises oder eines Unendlichen mit einer Art Null oder Nichts. Kulturphilosophisch kann man daraus folgern, dass diese Art von Rechenoperationen erst möglich werden, wenn der Mensch dieses Zusammenwirken überhaupt erst „denken“ kann, wenn er also sich dem Wesen des Ichs in seinem Zusammenspiel eines weitesten Umkreises oder eines Unendlichen mit einer Art punktartigen Ort, welcher seine zeitlich begrenzte individuelle Existenz zunächst darstellt, in ersten Formen des Bewusstseins angenähert hat.

   

In frühen Zeiten hatte der Mensch kein Individualbewusstsein, er lebte fast vollständig im Kollektiv eines Sippen- Stammes- oder Volksbewusstseins. Das „Individuelle“, der „Einzelne“ zeigte sich in ersten Zügen in der griechisch-römischen Antike und trat dann vor allem in den letzten 600 Jahren, in der sogenannten Neuzeit weiter hervor. Die Griechen entwickelten eine erste Art Rechnung mit dem Inkommensurablen, dem „Nichtvergleichbaren“, etwa zur Darstellung der Kreiszahl „pi“ oder der Länge der Diagonalen a mal „Wurzel 2“ eines Quadrates der Kantenlänge a. Aber in der Antike hatte man noch keinen Grenzwertbegriff oder eine Vorstellung von einer unendlichen Folge und so blieb es über lange Zeiten ein Problem, wie zum Beispiel die Summe von Ausdehnungslosem oder von „Nichtsen“ etwas Ausgedehntes oder etwas Endliches, von Null Verschiedenes ergeben soll. Es entstand daher die Infinitesimalrechnung in ihrer heutigen umfangreichen Form erst im 17. Jahrhundert.

 

So wären, diesen Überlegungen folgend, die Menschen der vorchristlichen Zeit, etwa der altägyptischen oder altpersischen Kultur, noch gar nicht in der Lage gewesen, derartige Rechenformen, wie oben skizziert, zu entwickeln, obwohl diese Menschen als Kulturkollektiv doch sehr stark in der Mathematik und Astronomie gegründet waren. Für Menschen aus dieser Zeit lebte das Ich noch ganz im Kosmischen, im Umkreis, etwa als „Sonnengeist“ und wurde noch in Form einer Art alten Hellsichtigkeit geschaut und verehrt, der einzelne physische Mensch erlebte sich nicht als individuelles Zentrum, sondern ganz hingegeben an die Gottheit, die sich zum Beispiel für das Volk der ägyptischen Kultur in der Person des Pharao ausdrückte. Daher wäre es einem einzelnen Menschen aus diesen Zeiten auch nicht möglich gewesen, in seinem Bewusstsein ein Verhältnis zwischen einem (punkthaften, individuellen) Zentrum und einem Umkreis oder einer Unendlichkeit herzustellen oder dieses gar in einer abstrakten, mathematisierten Form auszudrücken, da es in dieser Zeit auch noch kein Bewusstsein für ein punkthaftes, isoliertes Zentrum gab und daher der Mensch ein schöpferisches Zusammenspiel zwischen diesem Zentrum und einer Unendlichkeit auch noch nicht denken konnte.