Wo Philosophie und Geistiges Schauen zusammentreffen-
ein Beitrag von Ludwig Meindl
Die Aktualität des Universalienstreits, der im Mittelalter seinen Ausgang nahm, belegen die Diskussionen über Bündel-, Tropen-, Raum- und Universalienontologie in der modernen Quantenphysik. Umstritten bleibt, ob die berühmten „Teilchen“ eine transzendentale Individualität haben oder „einfach nacktes Partikular“ sind.
Will man die Problematik ergründen, fragt man sich zunächst: was ist eine Universalie? Eine Antwort darauf gab schon der griechische Philosoph Platon mit seiner Ideenlehre. Die Idee hat demnach eine eigenständige Existenz. Sie gewährleistet erst die Grundlage für alles, was hier auf Erden materiell ist, indem sie ihm die geistige „Form“, das „Wesen“ verleiht. Die Idee, die das Allgemeine, das „Universelle“, zum Ausdruck bringt, hat nach Rudolf Steiner ein eigenständiges „Sein der Form“. Will ein Schreiner einen Stuhl herstellen, muss er sich vorher Gedanken über seine Funktionen machen. Erst diese Idee auf geistiger Ebene verhilft ihm zur Umsetzung eines Stuhles in der Materie. „In dem Universell-Wesenhaften, wie es vor seiner Verwirklichung in den Einzeldingen besteht, muss eine rein geistige Daseinsstufe gedacht werden. Für die Geisteswissenschaft sind die Universalia ante rem ( Ante rem: vor der Sache, der Materie, dem Ding) Ergebnis der übersinnlichen Anschauung.“[1]
So unterscheidet man neben dieser Universalie ante rem (Idee vor der Sache), die Universalie in re (die Idee in der Sache) und die Universalie post rem (die Idee nach der Sache). „Ante rem“ also die geistige Ausgangsbasis (das geistige Konzept zum Herstellen eines Stuhles), „in re“ das Wesen, das in dem Objekt steckt (die Idee des Stuhles im materiellen Produkt), „post rem“, was wir als „Seelenerlebnis“ in uns haben (der Begriff des Stuhles, den wir uns jederzeit bilden können, wenn wir schon einmal einen Stuhl gesehen haben).
Über Jahrhunderte blieb dieses Wesen „vor“, „in“ und „nach“ der Materie unumstritten als Realität. Wie sich das wandelte, erläutert Rudolf Steiner mit einem Beispiel. Bis zum fünften nachchristlichen Jahrhundert habe man in den sieben freien Künsten noch Wesen geahnt, so in der Grammatik das „Wesen, das in den Worten und Wortzusammenhängen lebt“. Dann wurden Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astrologie allegorische „Damen“. Heute ist Grammatik abstrakt, nur noch Satzbau und Synthese.
So nannte man diejenigen, die in den Universalien schaffende Wesen erkannten, die Realisten, zu Recht, denn sie erkannten die Realität – heute ist alles wieder umgedreht. Die das ablehnten, wurden Nominalisten, da sie darin nur den Namen sahen. Auf den Universalienrealismus des Aristoteles in der Antike folgte die christliche Version. Augustinus erkannte in den Ideen die Gedanken Gottes vor der Schöpfung, ähnlich Thomas von Aquin. Dann aber spaltete das Mittelalter das „Heer der Mönche“ in Realisten und Nominalisten. Schon Roscelinus überraschte mit einer radikal materialistischen Sichtweise: nur was die Sinne wahrnehmen, gibt es. Begriffe dagegen seien „flatus vocis“ („Schall und Rauch“). Auf der Synode von Soissons (1092) musste er widerrufen, weil er den Nominalismus auch auf die Trinität ausgedehnt hatte. Der Begriff der Dreifaltigkeit, meinte er, sei ebenfalls nur „ars vocalis“ (Wortkunst), „Schall und Rauch“. Wenn, dann gäbe es eben drei Götter nebeneinander – das hieß „Tritheismus“ statt „Trinität“.
Abaelard unterschied: echte Universalien gibt es nur bei sinnlich nicht Wahrnehmbarem, z. B. Gerechtigkeit. Die Universalien zu materiellen Existenzen konzipiere der Mensch in seinem Verstand. Das nannte man den Konzeptualismus. Das Wort als Naturlaut beispielsweise sei reeller Schöpfungsbestandteil und existent. Das Wort seinem Sinn nach habe der Mensch in seinem Verstand geschaffen, sei also nur „semantisch existent.“ Thomas von Aquin orientierte sich wieder an Aristoteles und schaffte die klassische christliche Synthese. Es gibt Universalien, die sich in der göttlichen Vernunft bilden und vor den Einzeldingen sind (ante rem). Daneben existieren die Universalien in den Einzeldingen selbst (in re). Schließlich sind sie auch als Begriffe im Verstand des Menschen (post rem).
Weitere Versionen steuerten Duns Scotus und Wilhelm von Ockham bei. Pierre d’Ailly brachte neben die Transsubstantiation (Wesensumwandlung bei der Wandlung der Messe) die „ketzerische“ Konsubstantiation (Wesensgleichheit nach der Wandlung bei der Messe) ins Spiel. Mit Descartes‘ Wesensdualismus erhöhte sich die Polarität zwischen Rationalismus und Empirismus. Die Empiristen (heute Anhänger der Naturwissenschaft) waren meist Nominalisten. Noch radikaler formulierte John Locke: „Das Allgemeine [also die Universalien] gehört nicht zum Bereich der existierenden Dinge, es ist vielmehr Erfindung und Produkt des Verstandes …“ Berkeley zitierte als Beispiel den Begriff „schnell“. Den könne man sich nur vorstellen in Zusammenhang mit einem schnellen Menschen, schnellen Tier, schnellen Schiff.
Mit dem „Sein des Seienden“ befasste sich in der Moderne Nicolai Hartmann und unterschied „real“ und „ideal“. Danach reihte er alle Gedanken und das „nicht gegenständliche“ Seiende unter das „ideal Seiende“. Das nannte er unvergänglich. Demgegenüber stand das „real Seiende“, das Vergängliche. Das Ideale sei im Realen als Struktur, also „in re“. Weitere modifizierten in diesem Sinne und bekannten sich zum Platonismus. Dann machten sich immer mehr die Nominalisten breit, vor allem die Sprache wurde in syntaktische Regeln zerpflückt. Gegen den klassischen Universalienrealismus der Mathematik, nach dem die Inhalte der Mathematik ihre eigene Existenz haben und nicht erfunden, sondern gefunden werden, erhoben sich nominalistische Auffassungen.
Der Nominalismus wurde zur Doktrin der Naturwissenschaften. Das hatte nach Rudolf Steiner zur Folge: „Sie baute ein großartiges System von Anschauungen der sinnfälligen Welt auf, aber sie vernichtete die Einsicht in das Wesen der Ideenwelt.“ Damit vollzogen die Nominalisten den Abfall von Michael. Bis zum Mittelalter habe man den Erzengel Michael noch als Verwalter der kosmischen Intelligenz geschätzt. Nur die „Realisten“ hätten ihm die Treue bewahrt und auch das Wissen, dass Gedanken nicht Eigentum der Menschen sind.
Schon die Scholastiker wussten demzufolge, dass „die menschliche Seele die universelle Form durch die Beobachtung der Dinge in sich … aufleben lässt“ – die Universalie, die Idee, das Sein der Form in den Objekten. Da sind wir beim Geistigen Schauen. „Die Materie will mit bestimmten Inhalten dem Auge entgegenstrahlen und mit objektiven Gedanken begleitet und berührt werden …“ heißt es bei Heinz Grill.[2] Sie möchte am Erlösungswerk teilnehmen, denn „mit all den materiell gegebenen Umständen“ ist ein „verzaubertes Wesen“ gegeben: „Die Materie ist nicht nur Materie, sondern es sind Wesen in der Materie gebunden und geben gewisse äußere atmosphärische Bedingungen wieder.“[3]
Die Nominalisten leben nach Rudolf Steiner ein „totes Dasein“. Demnach wird es überfällig, dass dem naturwissenschaftlichen Nominalismus ein Erkenntnisweg zur Seite tritt, der zeigt, dass die Erkenntnis des Geistigen in der Menschheit nicht erloschen ist. Dazu können wir mit dem Geistigen Schauen beitragen.
Ludwig Meindl
"Die Schule von Athen" von Raffael
l. Platon, der auf die Welt der Ideen verweist
r. Aristoteles, der mit der Hand auf das Irdische zeigt
Erläuterungen:
Namen: Platon: griechischer Philosoph (428 – 348 a.Chr.n.).
Aristoteles: griechischer Philosoph (384 – 322 a.Chr.n.).
Thomas von Aquin: Kirchenlehrer, Philosoph, Dominikaner (1225 – 1274).
Roscelinus, Johannes: Philosoph, Theologe in Tours (1050 – 1124).
Abaelard, Petrus: Philosoph, Theologe in Paris (1079 – 1142).
Duns Scotus: Schottischer Philosoph, Theologe in Paris und Köln (1266 – 1308).
Wilhelm von Ockham: Philosoph, Theologe in London und München (1288 –
1347).
D’Ailly, Pierre: Theologe, Philosoph in Paris (1350 – 1420).
Locke, John: Englischer Philosoph (1632 – 1704).
Descartes, René: Französischer Philosoph (1596 – 1650).
Hartmann, Nicolai: Deutscher Philosoph (1882 – 1950).
Steiner, Rudolf: Begründer der Anthroposophie (1861 – 1925).
Grill, Heinz: Spiritueller Lehrer (1960).
Begriffe: Ante rem: vor der Sache, der Materie, dem Ding.
In re: in der Sache, der Materie, dem Ding.
Post rem: nach der Sache, der Materie, dem Ding.
[1] Rudolf Steiner: „Philosophie und Anthroposophie.“ GA 35 (p. 90)
[2] Heinz Grill: „Das Wesensgeheimnis der Seele.“ (p. 371)
[3] Heinz Grill: „Die Synthese von Geist und Welt.“ (p. 113)
Wird ein Wolf, der nur Schafe frisst, selbst zu einem Schaf?
Einen interessanten Text zu dem auch als Nominalismusstreit bezeichneten Universalienstreit gibt es auch von Rudolf Steiner, der in dem Absatz mit dem "lämmerfressenden Wolf, der zum Schaf werden soll" sogar fast etwas Humorvolles hat. Steiner beschreibt in diesem Text über die mittelalterliche Scholastik im 15. Jhdt. anhand der sogenannten "Gottesbeweise", wie die Frage nach der Realität der Begriffe, also auch die Frage nach der Realität des Gottesbegriffes die Menschen innerlich bewegt, ja sogar beunruhigt hat, was in früheren Zeiten nicht der Fall war und deutet dies als Verlust von etwas, was früher selbstverständlich für den Menschen war, was sozusagen mit ihm lebte. Früher verlangte der Mensch nach keinem Beweis des Daseins Gottes, da er es für selbstverständlich hielt. Die Spaltung des europäischen Geisteslebens im Mittelalter in Nominalsten und Realisten zeigt nach Steiner einen Zeitalterwechsel an, nämlich den Wechsel von der „Verstandesseele" zur „Bewusstseinsseele" oder das beginnende Herausarbeiten des Ich- Bewusstseins des einzelnen Menschen, der in früheren Zeiten mehr im Kollektiv des Volkes oder der Sippe aufging und nicht in der heutigen Weise als Einzelbewusstsein differenziert war:
„Man betrachtet immer nicht genau genug, wie stark ausdrucksvoll der Umschwung ist, der in diesem Zeitalter in der Gedanken und Erkenntnis-Entwickelung der Menschheit eingetreten ist. Es ist sogar eine Zeitlang eine rechte Abneigung gewesen namentlich unter den Philosophen und denjenigen, die ihnen in der Weltbetrachtung verwandt sind, gegen die Erfassung gerade desjenigen Zeitalters europäischer Zivilisationsentwickelung, das man nennen könnte das Zeitalter der Scholastik, in welchem bedeutsame Fragen an die Oberfläche des menschlichen Erkennens heraufgetrieben worden sind. Fragen, bei denen man fühlt, wenn man sie nur genau genug betrachtet, wie sie nicht etwa bloß aus der logischen Deduktion herausfließen, in die sie gewöhnlich eingekleidet werden im Mittelalter, sondern von denen man empfindet, dass sie aus tiefen menschlichen Untergründen hervorgehen. Man braucht sich nur zu erinnern an dasjenige, was dazumal eine gründlich tiefe Frage war der Menschheitserkenntnis, die Frage nach dem Realismus, dem Nominalismus. Oder man braucht sich nur zu erinnern, was in der Geistesentwickelung Europas das eigentlich bedeutet hat, dass solche Gottesbeweise, wie der sogenannte ontologische Gottesbeweis, heraufkamen, wo man aus dem Begriff heraus selber zu einem Beleg, einem Erhärten der Existenz Gottes kommen wollte. Man erinnere sich, was das eigentlich in der ganzen Entwickelung der menschlichen Erkenntnis bedeutet. Da wühlte etwas im innersten Untergrund der ganzen menschlichen Wesenheit. Das drückt sich nur aus im Vollbewusstsein durch jene Deduktionen, die da gepflogen wurden. Die Menschen werden in dieser Zeit gewissermaßen irre daran, ob die Begriffe, die Vorstellungen, die sie sich ausbilden, irgendwie, wenn sie in Worte gekleidet werden, etwas Reales darstellen, oder ob sie nur eine formale Zusammenfassung der äußeren, sinnlichen Tatbestände sind. Die Nominalisten sehen in den allgemeinen Begriffen, die sich der Mensch bildet, eine formale Zusammenfassung, die keine Bedeutung hat für die äußere Realität, sondern die den Menschen nur die Möglichkeit bieten soll sich zurechtzufinden, eine Orientierung zu haben in der verwirrenden äußeren Welt. Die Realisten dagegen – der Ausdruck wurde ja anders gebraucht dazumal als heute – behaupteten, in den allgemeinen Begriffen etwas Reales zu finden, etwas Reales, in dem sie leben, innerlich zu haben, nicht bloß Weltzusammenfassungen oder abstrakte Schemen.
Albertus Magnus (Bild, um 1200 - 1280) und sein Schüler Thomas von Aquino (1225 – 1274) vertraten in der Hochscholastik eine Position des "Realismus", also der realen oder geistigen Existenz der der Dingen zugrundeliegenden Begriffe. Sie knüpften noch an die Antike mit den Philosophen Platon und Aristoteles und an deren „Ideenlehre" an, wobei zumindest nach den heute gängigen Darstellungen Aristoteles der Existenz der Einzeldinge schon den Vorrang vor der Realität der Idee oder dem "Urbild" gegeben haben soll. Bild: fotolia, CC0 Public Domain
Ich habe ja in den Vorträgen, die ich sonst mehr populär gehalten habe, oftmals erwähnt, wie mein alter Freund Vincenz Knauer auf diese Fragen aufmerksam machte. Er war, ich möchte sagen, als ein Spätscholastiker – er hat das sicher selber nicht sein wollen, aber er war es wenigstens in erkenntnistheoretischen Fragen – durch und durch Realist und hat daher in seinem immerhin sehr interessanten Buche über «Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Entwicklung und teilweisen Lösung von Thales bis Robert Hamerling» gesagt: Nun ja, da behaupten die Nominalisten, dass der Allgemeinbegriff «Lamm» nichts anderes sei als eine im menschlichen Geiste entstandene Zusammenfassung und der Begriff «Wolf» auch eine im menschlichen Geiste entstandene Zusammenfassung; dass also nur die Materie in verschiedener Weise verknüpft sei im Lamm und im Wolf. Diese fasse man einmal unter dem Schema des Lammes, ein andermal unter dem Schema des Wolfes zusammen. – Und er meint, man solle nur einmal probieren, einen Wolf von aller sonstigen Nahrung abzuhalten und ihm nur Lämmer zu fressen zu geben, dann wird er zwar nach der nötigen Zeit ganz aus Lammesmaterie bestehen, aber er wird durchaus seine Wolfsnatur nicht aufgeben! Also diese Wolfsnatur, die durch den Allgemeinbegriff «Wolf» ausgedrückt wird, muss etwas Reales sein.
Nun, dass der Gottesbeweis, den man den ontologischen nennt, überhaupt aufkommen konnte, das zeugt schon von einer durchgreifenden Bewegung innerhalb der menschlichen Natur. Denn im Grunde genommen hätte kurz vor dem Aufbringen dieses ontologischen Gottesbeweises dem Menschen innerhalb des europäischen Lebens gar nicht der Einfall kommen können, das Dasein Gottes beweisen zu wollen, sondern man nahm es als eine Selbstverständlichkeit an. Und erst als die Zeit herankam, wo diese Selbstverständlichkeit nicht mehr im Menschen lebte, verlangte man nach einem Beweise. Dasjenige, was als eine Selbstverständlichkeit in einem lebt, das will man nicht beweisen. Also, es war den Menschen etwas abhanden gekommen, was bis dahin als Selbstverständlichkeit in ihnen war und es war etwas in sie hineingekommen, was den Geist in eine ganz andere Bahn und zu ganz anderen Bedürfnissen brachte. Ich könnte noch vieles anführen, was Ihnen zeigen würde, wie gerade – cum grano salis sei es gesagt – auf der höchsten Stufe der Gedanken- und Erkenntnisentwickelung um diese Zeit des Mittelalters es in der menschlichen Natur wühlte."
Aus: Rudolf Steiner, „Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie", Seite 116-117, Rudolf Steiner Verlag, Dornach, Schweiz.